Volle Terminkalender, niemand hat Zeit, alle sind ausgebucht. Unruhe scheint ein verbreitetes Phänomen in unserer Gesellschaft. Wer stets busy und viel unterwegs ist, hat alles richtig gemacht. Wirklich? Der Kieler Philosoph und Buchautor Ralf Konersmann („Die Unruhe der Welt“) im geruhsamen Gespräch mit Deborah Klein.
Zuallererst stellen Sie sich bitte kurz mit ein paar Worten vor!
Mein Name ist Ralf Konersmann. Ich lehre Philosophie an der Universität in Kiel und bin darüber hinaus als freier Publizist tätig. Im Mittelpunkt meiner Arbeiten steht die Frage, welches die sprachlichen und geistigen Mittel sind, mit denen wir uns in der Welt zurechtfinden. Oft werde ich gefragt, wie ich auf das Thema Unruhe überhaupt gekommen bin. Ich muss sagen, ich weiß es nicht. Vielleicht hat es damit zu tun, dass wir so hoch im Norden wohnen. In dieser Stille lässt sich zuweilen vernehmen, was anderswo im Lärm des Alltags untergeht.
Wenn Sie drei Worte wählen sollten, um Ihre Arbeit zu beschreiben?
Neugier, Umsicht, Urteilskraft.
Wo fängt Unruhe an, wo hört Ruhe auf? Gibt es klare Indizien?
Eine klare Grenze wird sich hier kaum ziehen lassen. Eine Unruhe, die nur Unruhe ist, droht in Stress umzuschlagen, und eine Ruhe, die nur Ruhe ist, erscheint bald öde und leer. Es gibt zahlreiche Versuche, die Unruhe messbar zu machen, sie objektiv zu erfassen und die einschlägigen Symptome zu benennen. Was dabei herauskommt, sind jedoch allenfalls Indizien. Nüchterne Selbstbeobachtung genügt, um sich klarzumachen, dass die Unruhe ein höchst widersprüchliches Phänomen ist. Sie setzt uns zu und lässt uns leiden, und doch lieben wir sie und wollen sie keinesfalls missen. Einmal ist sie Panik und Verwirrung, dann wieder Freude und Begeisterung. Die Unruhe ist, mit einem Wort, eine Passion.
Nervöse Unruhe ist ein verbreitetes Phänomen in unserer Gesellschaft. Warum ist die Gesellschaft so in Eile?
Der Hauptgrund ist aus meiner Sicht, dass wir all die Verlangsamungsmechanismen, die die westliche Kultur zur Abwehr der Unruhe in Stellung gebracht hat, etwa in Form von gemeinsamen Mahlzeiten oder arbeitsfreien Sonntagen, nach und nach abgebaut haben. Von der Ruhe, die einmal der Inbegriff des Glücks und der Zufriedenheit war, haben wir umgestellt auf die Unruhe, von der wir nun alles Mögliche erwarten: Aufbruch, Veränderung, Fortschritt. Wir investieren schwindelerregende Summen, um die Kommunikation und den Verkehr zu beschleunigen, und fürchten nichts mehr als den Stillstand und das Warten. Das sind die Momente, in denen wir die Unruhe als Erlösung empfinden und uns nur zu gern auf sie einlassen.
Wer busy ist, scheint wichtig und erhält Anerkennung. Haben sich die Werte verschoben?
Die Werteverschiebung geschieht Tag für Tag und sie ist radikal. Die aktuellen Verhaltenslehren der Bildung und der Werbung, die Botschaften der Politik und der populären Kultur kommen in diesem einen und entscheidenden Punkt überein: Aktiv wollen wir sein, mobil, flexibel, aufgeschlossen gegenüber dem Neuen, was immer es auch sein mag. Wir sind permanent auf Empfang gestellt und an dieser Haltung orientieren sich alle übrigen Entscheidungen des Alltags. Es gilt, die Zeit zu nutzen und die Gelegenheiten zu ergreifen, jederzeit dranzubleiben und immer auf dem Sprung zu sein. Wir, die wir in der Unruhewelt leben und zurechtkommen müssen, haben verstanden und stellen uns darauf ein.
Viele Menschen sehnen sich nach Ruhe und Erholung und schaffen sich dennoch keine Pausen. Ist das Sehnen danach nicht stark genug?
Gewiss, auch die Sehnsucht nach Ruhe ist groß, doch die Verwirklichung schwierig. Und macht die Ruhe uns nicht auch Angst? Was sollen wir denn tun, wenn plötzlich gar nichts mehr geschieht und wir mit leeren Händen dastehen? Wie sollen wir allein mit uns selbst zurechtkommen? Werden wir uns nicht tödlich langweilen? Dürfen wir wenigstens unser Smartphone mitnehmen? Auf jedem Bahnsteig und an jeder Haltestelle demonstrieren uns die gesenkten Köpfe der vielen, wie unerträglich uns inzwischen ein paar wenige unausgefüllte Minuten sind.
Was vermeiden wir, wenn wir nie innehalten? Und wo führt dies hin?
Die Unruhe lässt keine Wünsche offen. Es ist ihr gelungen, sich selbst als der Inbegriff alles überhaupt Wünschbaren zu präsentieren: als Erlösung aus der Langeweile, als Motor des Fortschritts, als Wegbereiterin der Selbstverwirklichung. Erfolgreich hat sie den Eindruck erweckt, nichts ginge ohne sie. Indem sie keinen Lebensbereich unberührt ließ, wurde sie eins mit der Normalität. Die voll ausgebildete Unruhekultur ist keineswegs intolerant. Es ist nur so, dass andere Lebensentwürfe als ihr eigener für sie außerhalb jeder Vorstellung liegen.
Viele Menschen sind irritiert, wenn Menschen in völliger Seelenruhe mit sich sein können. Was genau bereitet die Verwirrung?
Verwirrend ist der Eindruck, dass da etwas sichtbar vorgelebt wird, wofür im Lebensentwurf der Rastlosen kein Raum ist. In der Unruhekultur des Westens müssen Pausen und Freizeiten, müssen Urlaube und Mußestunden gefüllt und sinnvoll genutzt werden, um überhaupt zulässig zu sein: zum Beispiel durch Arbeiten in Haus und Garten oder durch prestigeträchtige Events. Zu den Wörtern, die in der Unruhekultur vom Aussterben bedroht sind, gehört der Genuss.
Worin kann der Mensch seine Ruhe neu entdecken?
Die Ruhe ist zu einer Herausforderung eigener Art geworden, zu etwas, um das man sich bemühen und das man sich erkämpfen muss. Aus diesem Widerspruch kommen wir nach Lage der Dinge nicht heraus. Bevor wir jetzt aber auf den nächsten Zug aufspringen und nach den Bildern der organisierten Freizeit haschen, die die Unruhekultur für uns bereithält, sollten wir uns ernsthaft fragen, was Ruhe in der heutigen Zeit überhaupt sein könnte. Ich verstehe meinen Versuch, das Kultursyndrom der Unruhe aus dem Dunkel des allzu Selbstverständlichen herauszuheben, als einen ersten Beitrag, um diese Frage zu klären.
Kann Ruhe nur allein wirklich gelingen?
Einsamkeit ist ein klassisches Ruhekonzept. Wenn uns alles zu viel wird, machen wir hinter uns die Tür zu. Für viele ist dauerhafte Einsamkeit, ist der Verzicht auf menschliche Nähe, allerdings nur schwer zu ertragen. Das Vorbild der Religionen kann an dieser Stelle nicht überzeugen, weil der Eremit nicht allein ist, sondern allein mit Gott. Die Formel: Ruhe in Einsamkeit ist radikal und offensichtlich nicht mehrheitstauglich.
Was bringt Ruhe unweigerlich mit sich?
Die Ruhe – darauf haben die Protagonisten der Unruhe zu allen Zeiten hingewiesen – hat ihren Preis. Wenn es ruhig ist, dann ist nichts los, nichts geht voran, wir kommen nicht von der Stelle… Zudem ist die Ruhe der Leichtfertigkeit verdächtig, weil sie die Sorge um die Zukunft nicht kennt, und steht entsprechend in dem Ruf, zutiefst unmoralisch zu sein. Wer nichts zu tun hat, heißt es dann, kommt auf dumme Gedanken. Wir müssen uns klarmachen, wie viel abgesunkene christliche Ethik in unserer Unfähigkeit steckt, ohne schlechtes Gewissen zur Ruhe zu kommen – sie zuzulassen.
Was empfehlen Sie Menschen, die die Ruhe verlernt haben?
Lest die alten Philosophen – allen voran die Schriften Senecas.
Was tun Sie persönlich, um einen geruhsamen Moment zu erhalten?
Ich tue genau das – und lese. Das Lesen unterbricht die Unruhe. Wie von selbst verlangsamt es den Rhythmus des Lebens, versammelt die geistigen Kräfte, führt uns durch unbekannte Welten und eröffnet ungeahnte Perspektiven. So lange wir lesen, haben wir die Unruhe im Griff – und nicht umgekehrt.
Fortsetzung gefällig? Das aktuelle Buch „Wörterbuch der Unruhe“ (S. Fischer Verlage) von Ralf Konersmann ist im Buchhandel erhältlich. Mehr zu Ralf Konersmann ist auf seiner Homepage zu finden.
Bild: Fotograf Bodo Kremmin