Die digitale Selbstentfremdung in der Gesellschaft ist brisant – Ein gedanklicher Spaziergang mit dem deutschen Philosophen Wilhelm Schmid.
Hier ein Post, da ein Selfie und noch ein paar Likes für zwischendurch: Ich poste, also bin ich! Doch neben all den Einrücken und Vernetzungen unabhängig von Raum und Zeit riskieren die Menschen eines: Die Aufmerksamkeit für den Moment und den damit verbundenen Wert. Wer sich keine wirklichen Auszeiten gönnt und seine Selbstwahrnehmung, also die Frage nach dem „Wer bin ich und was macht mich aus?“ über Interaktionen mit dem Smartphone misst und deutet, verliert die eigene Realität. Wilhelm Schmid gilt als bekannter Glücksforscher und Philosoph, der sich wagemutig dazu bekennt, dass Glück „nicht das Wichtigste im Leben ist“.
Was für Folgen hat die permanente Zerstreuung mit dem Smartphone auf uns selbst?
Sie verhindert das Entstehen von Leere, die unbeliebt ist, weil sie Menschen Angst macht, mir auch. Aber nur was leer ist, kann sich füllen.
Verändert sich durch die Vernetzung und Darstellung im Netz unser Selbstbild und das Bild zu anderen?
Wahrnehmung ist immer eine Verzerrung, nie identisch mit der Realität, insofern nichts Neues. Jetzt ist die Verzerrung digital bedingt, mit allem, was das möglicherweise nach sich zieht. Irgendwas ist immer.
Welche Motivation hat es, wenn Menschen ständig surfen und posten?
Menschen wollen aus der drohenden Einsamkeit, dem Alleinsein mit sich, ausbrechen und anderen Bekundungen von ihrem Ich geben. Niemand will übersehen werden, alle wollen wahrgenommen werden, in der Hoffnung, damit Wahrheit zu gewinnen: Das von anderen bezeugte Leben vermittelt ein scheinbar intensiveres Lebensgefühl.
Der Trend nimmt zu, seinen Alltag mit Selfies und anderen Bildaufnahmen öffentlich zu dokumentieren. Verändert das unser Verhalten?
Das Selfie ist ein Spiegelbild unseres Selbst, wie einst Narziss sich gerne in einer spiegelnden Wasseroberfläche betrachtet hat. Das ist sicher ein wenig narzisstisch, ich bin keine Ausnahme. Auch der Hintergrund ist wichtig: Seht her, wo ich bin und wie gut es mir geht. Ich pose und poste, also bin ich.
Was fehlt Menschen, die ihr Smartphone permanent aktiv nutzen?
Vielleicht fehlt ihnen eine starke Selbstbeziehung. Daher die permanente Rückversicherung bei anderen, ja, es gibt mich, ja, ich habe was zu sagen, ja, ich erlebe was. Nur in der Kommunikation mit anderen fühle ich mich selbst und halte mir die Angst vor dem Leben oder der Leere vom Hals.
Steckt dahinter ein Wunsch oder eine Illusion?
Vernetzung war schon immer eine Lebensversicherung. Als Illusion kann sich das erweisen, wenn die Vernetzung ausschließlich virtuell ist und ihr keine realen Erfahrungen entsprechen. Die Omnipräsenz der Vernetzung in jedem Augenblick verändert das Ich-Konzept stark. Über das autonome Ich hinaus entsteht das vernetzte Ich.
Was verkümmert bzw. wird nicht mehr trainiert, wenn wir uns stets von Bildern aus dem Außen unterhalten lassen?
Die Sinnlichkeit leidet, die fünf bis sieben Sinne, die wir haben, verkümmern. Das ist eine echte Gefahr fürs Leben, denn Sinnlichkeit gibt dem Leben sehr viel Sinn. Ebenso die Phantasie, das passiv-kreative Sich-Hingeben an eigene Gedanken und Träume. Auch die Langeweile als Quelle von Kreativität leidet unter dem ständigen Bombardement von außen.
Welche kurz- bis langfristigen Folgen hat das für die Gesellschaft und den Einzelnen?
Weltverlust, Sinnverlust, aber mittelfristig ändert sich das. Die Gegenbewegung zur Digitalisierung ist bereits auf dem Weg, siehe die Crafts-Bewegung, die Wiederentdeckung der Natur, den Drang zum eigenen Garten oder zum Urban Gardening.
Welchen Appell würden Sie persönlich geben wollen, um einen gesunden Umgang zu empfehlen?
Es mit der Nutzung digitaler Medien so weit wie möglich, bis zur totalen Übelkeit, zu treiben, dann wächst auch das eigene starke Interesse an einer Mäßigung. Die praktische Erfahrung ist wirksamer als die theoretische Einsicht. Moralisieren und Predigen hilft nichts.
Können Sie konkrete praktische Tipps geben, die der digitalen Entfremdung entgegenwirken können?
Guten Espresso trinken. Jeden Tag fünf Kilometer zur Fuß gehen – vielleicht sogar ohne digitale Begleitung auf den Ohren. Vogelstimmen hören und womöglich sie unterscheiden lernen. Sich für die Details von Seifen oder Weinen oder von irgendetwas anderem zu interessieren. Den Ofen anheizen. Abendlange Gespräche führen. Hinreißenden analogen Sex haben. Sich für Menschen interessieren. Ins Kino gehen – es ist ganz einfach!
Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. 2012 wurde er mit dem Meckatzer-Philosophie-Preis und 2013 mit dem Egnér-Preis ausgezeichnet.
Fortsetzung gefällig? Mehr über Wilhelm Schmid auf seiner Homepage.